Die komponentialanalytisch erkennbare Geschichte besteht also aus einer Abfolge von Sinnmöglichkeiten; so wird sie als
,,Potentialgeschichte" bezeichnet.
Alle menschlichen Tätigkeiten führen dazu, daß Sinnmöglichkeiten in Verwirklichungen verwandelt werden, die insgesamt die ,,Aktualgeschichte" ausmachen. Vielfach verdeckt die
historische Wirklichkeit die Möglichkeiten, aus der ihre Bestandteile hervorgingen. Die Vertreter der Neuen Epochenforschung befassen sich mit den epochalen Sinnsystemen, die den Tätigkeiten in den verschiedenen Lebensbereichen
vorausgehen bzw. zugrunde liegen.
Von den epochalen Sinnsystemen der Potentialgeschichte ist ihrer hohen Abstraktheit wegen schwer zu sagen, was sie für das Leben der Menschen bedeuten. Da Dichter in Gleichnissen den von
ihnen erfahrenen Lebenssinn darstellen, kann dies durch die Untersuchung ihrer Werke geklärt werden. Die komponentialanalytisch arbeitende Literaturwissenschaft vermag daher einen herausragenden Beitrag zur Erforschung der
allgemeinen Potentialgeschichte zu leisten und damit zum tieferen Verständnis der Aktualgeschichte beizutragen.
Da die Komponentenanalyse auf das Sinnganze individueller Texte bezogen ist, können bei ihrer Anwendung
potentialgeschichtliche Prozesse wie unterm Mikroskop beobachtet werden.
Was bedeutet die Komponentenanalyse für die literatur-wissenschaftliche Komparatistik?
Dem theoretischen Anspruch nach laßt sich die
Komponentenanalyse auf Texte aller Sprachen anwenden.
Nach der Entwicklung der Methode anhand deutschsprachiger Texte wurde ihre Anwendbarkeit auf Texte in anderen europäischen Sprachen frühzeitig praktisch erprobt und
bestätigt.
Durch ein Forschungsprojekt an der Kairo-Universität erwies sich seit 1978 die Anwendbarkeit auf arabische Texte an mehr als 90 Dichtungen. Inzwischen wurden die Untersuchungen ausgeweitet auf Dichtungen in
türkischer, japanischer, chinesischer und koreanischer Sprache.
Überraschenderweise zeigten die Ergebnisse des Kairoer Projekts, daß die an der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts ermittelten
potentialgeschichtlichen Grundzüge auch in der ägyptischen wirksam sind. Unterdessen hat sich das auch bei der japanischen und bei der koreanischen Literatur des 20. Jahrhunderts herausgestellt.
Außer der gemeinsamen
Teilhabe an einem potentialgeschichtlichen Prozeß konnten durch die komponentialen Analysen auch regionale Besonderheiten festgestellt werden, die in der jeweiligen kulturellen Tradition gründen.
Welche Kulturkreise an
diesem gemeinsamen potentialgeschichtlichen Prozeß partizipieren, wann diese Gemeinsamkeiten entstanden sind - ob erst im 20. oder bereits im 19. Jahrhundert oder ob sie von Fall zu Fall schon erheblich länger existieren -, ist
eine z.Z. noch offene Frage.
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